Helmut Kohl

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Berlin 6/18

18. Mai 1969, Helmut Kohl besucht im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung die
Heimatstadt von Henriette Schmalbach

Es ist der Vorabend der Wahl zum Ministerpräsidenten von Rheinland Pfalz. Im Orstverband Knüllingen bei Pfaffenheim stehen 36 Bierbänke Spalier vor einem improvisierten Rednerpult. Eine dicke schwarze Stange aus Eisen trägt ein angeschraubtes Brett. Im Hintergrund: die im Weltkrieg nicht zerstörte Kleinstadt, Marktplatz mit grobem Kopfsteinpflaster, schmaler Säulengang vor den Geschäften des privilegierten Einzelhandels, in Richtung Sonnenuntergang ein Kirchturm mit Uhr. Dann noch das Typische der Region: sanfte Steigungen, Ausfallstraßen mit Blick auf Weinhänge, in der Luft hängt Most mit Zigarette. Aber auch die Moderne ist hier zu Hause, in der Nähe hört man einen Hubschrauber kreisen und an einer Schankwirtschaft steht: „Coca Cola schmeckt.“
17 Uhr, der Platz füllt sich, die Stadt raucht und trinkt sich in die Gemütlichkeit des Feierabends. Wir sehen oben aus dem zweiten Stock eines der Reihenhäuser eine Frau rausgucken. Weiße, streng zurückgebundene Haare, etwas nervös auf einem Kissen von links nach rechts rutschend. Neben ihr an der Wand ein großer Holzrahmen mit dem gesticktem Motto von Henriette Schmalbach, so heißt die Frau am Fenster: „5 Sind geladen, 10 sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe, heiß alle Willkommen.“
Der Fensterrahmen drückt sich durchs Kissen, ja, das ist es, die Frau geht mit dem Kissen weg, kommt wieder mit einer dicken Decke. Fertig. Die Gemütlichkeit hat jetzt den zweiten Stock erreicht.
Unten am Marktplatz Jubel, Trubel, vor dem Kirchturm eine Traube mit Menschen, sie halten Krüge und Blumensträuße. Am Rande, ein verzweifelter junger Mann mit einem Fressalienkorb, alles Geschenke für den Hauptredner – Helmut Kohl. Da steht er, eine Jagdweste an, lässig über der Stange eines Herrenrades und lässt sich Feiern.
Es ist Kohls achte Veranstaltung heute. Zuletzt ist er in Grotzeburg gewesen, wo ihn vor knapp einer halben Stunde ein Hubschrauber mitsamt Fahrrad abgeholt hat. Drinnen sitzt, wie immer Heiner Geißler. Über den Lärm hinweg lässt er Kohl wissen, dass Knüllingen stolz ist auf seinen vor Ort abgefüllten Weißwein und seine Pfeiffenmanufaktur. Letzteres zu Recht, sagt Geißler und steckt Kohl eine knüllinger Pfeife in den Mund. Dann schneidet er eine grobe Dauerwurst und ein halbes Pfund Butter in Scheiben, belegt die Wurst mit der Butter und nimmt Kohl die Pfeife aus dem Mund, damit dieser essen kann. Er hat noch drei Minuten, Kohl kaut und verdaut routiniert. Er denkt an den zu trinkenden üblen Weißwein und behält alles drinnen.

Zwei Kilometer vor Knüllingen landet der Hubschrauber auf einer Wiese. Drei Kühe, die zunächst noch neugierig zum Lärm nach oben gucken, rennen bald darauf davon. Rücksichtslos zersprengen sie einen Brunnen und zwei Zäune. Ihnen steht der Schaum vor dem Mund, keine weiß mehr, warum sie losgerannt ist. Vom Erfolg der Flucht vollkommen überrascht, werden sie übermütig, wollen im ungezügelten Galopp ihren neu entdeckten Willen einem Wassergraben aufzwingen.
Der Hubschrauber setzt auf. Helmut Kohl steigt aus, Geißler reicht ihm das Fahrrad und wünscht viel Glück. Kohl muss bis zur Straße, schiebt den schweren Stahlrahmen über die Wiese bis zum Zaun und nimmt die kleine Holzbrücke über den Wassergraben. Er holt tief Luft, die Sonne scheint, im Bauch machen Wurst und Butter Hochzeit. Es ist die Blaskapelle der guten Laune, die ihm den Saft in alle Glieder spült. Entsprechend schwungvoll steigt er aufs Rad – auf nach Knüllingen. Währenddessen spielt sich am Grunde des Wassergrabens der letzte Akt eines Drama ab, von dem Helmut Kohl nie erfahren wird. Drei Kühe im Wasser, zwei liegen tot am Grund, eine steht noch bis zum Hals im Wasser. Sie kommt im Verenden noch ans und wird sich ihrer selbst bewusst. Zitat: „Wie boshaft ist die Natur, zu der mein Wille nicht gehört.“ Ende.

Nach einer kurzen Anhöhe, die ihm authentischen Schweiß auf die Stirne treibt, rollt Kohl auf den Marktplatz von Knüllingen. Bevor man ihn erkennt, steckt er sich die Pfeife in den Mund und empfängt professionell Krüge und Blumen. Wieder Blaskappelle, Kohl muss gute Laune haben, Wein verkosten. Drei verschiedene, alle vergiftet, so sagt ihm seine Zunge, aber Kohl sagt: „Lecker, isch kann mich gar net entscheiden, welschen ich…“ und trinkt aus. Am Rednerpult redet sich Helmut Kohlgemütlich in Rage. Die Menschen applaudieren, man lacht über jeden Witz.
Niemand denkt mehr an die alte Frau im zweiten Stock, die mit den streng
zurückgebundenen Haaren und dem Kissen, nein, mit der Decke. Wo eben noch ihre
Ellenbogen sich am Fensterrahmen stießen, da lugt nun quer der Lauf eines Gewehrs heraus. Was wären das Sekunden tödlicher Spannung, aber zum Glück guckt keiner. Es ist Henriette Schmalbach, die mit einem Zündnadelgewehr aus dem Deutsch-Französischen Krieg, auf den Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt von Rheinland Pfalz zielt. Warum nur, möchte man fragen? Kohl war weder Nazi, noch Kommunist, die RAF gibt es noch nicht. Henriette Schmalbach drückt ab. Nichts geschieht.
Eine kurze Inspektion des Gewehrs ergibt, dass dem Zündnadelgewehr die Zündnadel fehlt. Ein kleines Detail, das Weltgeschichte schreiben wird. Die unverdient unerwähnte, fehlende Zündnadel im Gewehr der Henriette Schmalbach, nur eine von vielen in der Geschichte fehlenden Zündnadeln, und jetzt legt Henriette Schmalbach das Gewehr wieder in die Ecke und holt ein Ei aus dem Kühlschrank. Sie trägt es mit ans Fenster und wirft, wirft was das Zeug hält, aber Henriette ist zu ungeübt und das Ei krepiert auf dem Pflaster direkt vor ihrer Eingangstür. Das Ei, der Henriettte Schmalbach, auch dieses Ei, von der Geschichte vergessen, noch schnell nachgeholt. 26 Jahre später wird Helmut Kohl deutscher Bundeskanzler. Drei Kühe mussten dafür sterben. Wahnsinn.

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