bwlmr 2/17
Die Jukebox in der Barrakuda-Fisch-Bar, ein halb in die Wand eingelassens Stück Hartplastik, bedienbar über ein Mensch-Maschine-interface, mehr oder weniger berührungsunempfindlich. Auf dem Schirm zu sehen: fliegend animierte Cover, Alben von rechts, links. Sie geben erst Ruhe, wenn man sie tatsächlich auswählt.
Siegurt von Traunstein heißt im bürgerlichen Leben anders, aber das weiß hier in der Barrakuda-Fischbar niemand mehr. Vielleicht konnte sich um neun oder zehn noch jemand daran erinnern. Jetzt ist es halb drei. Siegurt zückt eine Kreditkarte – darauf wäre der andere Name zu lesen gewesen, wenn denn jemand hingeguckt hätte. Siegurt wählt Lieder aus.
Er ist vom Tresen rübergekommen – mit ganz konkreten Vorstellungen. Er beginnt das Tippen, dann übernimmt der Algorithmus die Kontrolle. Ehe die angedachten Worte ganz eingegeben sind, kommt die Wahrscheinlichkeit auf Siegurt zu. Aus Johnny Cash wird John Denver, aus M.I.A. wird Goerge Michael. Alle sollten ihn da lecken, wo die Sonne. Stattdessen singen die Leute seine (scheinbar seine) Auswahl mit. Siegurt kann nicht fassen, wie das gemein Durchschnittliche wieder aus ihm hervorgegangen ist. Sein Gesicht verbirgt das blanke Entsetzen hinterm grau betrunkenen, saftlosen Teint. Das ist jetzt seine Auswahl, niemand solle etwas andres denken. Siegurt singt besonders laut mit.
Mein Name ist Jochen Dürlitz. Ich bin 38 Jahre alt. Ich arbeite als x. Ich stamme aus einer Familie ohne besonderes Profil. Zur Aufnahme dieser Tätigkeit hat mir niemand geraten. Auch als ich begann sie einzuüben, konnte mir nieman Geleit dazu geben. In meiner Familie weiß der eine vom anderen wenig. Wenn ein Dritter von sich behauptet, er stamme aus einer Familie von Akademikern oder Supermarktbesitzern, dann stelle ich mir vor, wie der junge Hufschmied den Hammer aus dem ersterbenden, doch sehnigen Arm des Vaters nimmt, um dessen Geschäft fortzuführen. Zufrieden lächelt der Alte im Dahinscheiden. Er sieht und fühlt sein Werk in guten Händen, das eigne Fleisch und Blut. Der Hammer schwingt in Richtung Eisen.
“Siegurt setz dich.” Siegurt nimmt am Tresen Platz.
“Kann ich mich jetzt vielleicht mal setzen, ohne dass mir einer sagt, was ich soll?” sagt Siegurt und fällt hin. Seine Füße hatten die Stange am Boden der Theke vergessen. Der, an dem er sich da festhält, das ist niemand besonderes. Man hat sich grade kennengelernt. Im Fallen wird es laut. Auf dem Weg nach unten befinden sich: zwei übergewichtige Männer um die einsachtzig, zwei Halbliterflaschen Bier, sowie halbleere und volle Schnapsgläser in unbekannter Zahl, vom rechten Arm des Unbekannten mit Schwung ins Abseits geschlagen. (o.Ä.: mit Schmackes an die Wand). Es bleibt nur zu sagen, der Besitzer des Arms ist ohne Tadel. Ihm blieb kaum eine Wahl, wollte er sich irgendwo festmachen. Siegurt stieß ihn rabiat vom Stuhl, noch im Fallen: “Du blöde Sau!”
Um sechs Uhr fünfundvierzig steht Jochen gewöhnlich auf. So auch heute. Das ist für Jochen kein Problem. Das Wissen um seinen Kreativberuf motiviert ihn hart. “Das ist eine Chance für mich, mich zu verwirklichen.” hat Jochen damals beim Vorstellungsgespräch gesagt, und nur daran seien sein Einsatz und das Produkt zu messen. Wer sich verwirklicht, gibt 100% Prozent. Welche größere Chance sollte danach, oder an anderer Stelle auf ihn warten? Es wäre fahrlässig, die Einmaligkeit seiner erwarteten Zukunft durch unterlassene Anstrengung zu gefährden. Das wiederum hat niemand, je, genau so gesagt, aber Jochen denkt sich seinen Teil. Er hat das Training, kann die Erwartungen anderer stimmig sich zusammendenken.
Und dann um etwa 18 Uhr und 12 Minuten an einem frühen Frühlingstag, an dem der Morgen wie der Abend die Menschen von der Straße fegt – Sie hatten in der Zwischenzeit, die nächtliche Kälte glatt vergessen.
Am Abend eines solchen Tages fiel Jo Ernstwich von jener Leiter, die zum Zwecke der Pflege einer Dachrinne er zuvor bestiegen hatte. Die kurze Leiter, deren Holz vom Alter und schlechter Lagerung grün angelaufen war, hielt dem Sport auf oberster Sprosse wohl noch stand. Doch Jo verlor, ganz ohne Fremdverschulden zur Seite hin das Gleichgewicht. Das Urteil: Die Leiter sei für Jos Strecken und Recken nicht zu belangen, sagten die einen, andere meinten, sie habe ihn als unerreichbares Vorbild mit falschen Vorstellungen versehen.